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Predigten zum Neuen
Testament
46. JG. 2012/2013
DIE LESEPREDIGT
4. Sonntag im Advent
23.12.2012
Wer bist du?
Text: Joh 19,23(24-28)
I. Wer bist du? Wer hat Ihnen zuletzt diese Frage so direkt
gestellt? Möglicherweise ein Kind im Kindergartenalter? Erwachsene fragen
seltener so direkt. Oder gehen Sie einfach hin: Wer sind eigentlich Sie?
Diese Frage scheint indiskret. Eher fragt man jemand anderen aus: Wer ist
das denn?
Die Frage „Wer bist du?“ ist mehr als eine Frage nach dem Namen. Es
ist eine Frage nach der Identität, nach dem Wesen eines Menschen und nach
seiner Rolle. Beobachten Sie einmal, wie Sie beschreiben, wer jemand ist:
„Das ist Frau Huber“. - Da sagt noch nicht genug: „Sie ist die Frau von
Herrn Huber, der in unserer Firma für die Computer zuständig ist.“ Eine von
ihrem Mann abgeleitete Beschreibung – fairer wäre es, einen Menschen von
sich selbst ausgehend zu beschreiben. Die direkte Beschreibung geht oft von
Beruf oder Tätigkeit aus: „Sie ist Mathematikerin, - und momentan ist sie
zuhause bei den Kindern.“
Was sagt so eine Beschreibung über das Wesen eines Menschen? Greift
sie nicht viel zu kurz? Wird sie einem Menschen gerecht?
Wie schwierig es ist, einen Menschen angemessen zu beschreiben, wird
spätestens klar, wenn wir selbst gefragt sind: Wer bist du? - Wie würden
Sie sich selbst auf diese Frage hin beschreiben?
Wer bin ich selbst? – Eine der berühmtesten Antworten stammt
von Dietrich Bonhoeffer, der während des Dritten Reiches im Gefängnis
darüber nachdachte. Wer bin ich? Bin ich der, den die anderen in mir sehen:
gelassen, ruhig, gefasst – oder bin ich der, den ich im Inneren fühle:
unruhig, voller Angst, verzweifelt?
Wer bin ich eigentlich? Wer so über sich nachdenkt, fragt dabei nach
der Selbsteinschätzung – wie sehe ich mich selbst, und nach der
Fremdeinschätzung – wie sehen mich die anderen? Was ist aus meiner
Sicht und aus der Perspektive der anderen meine Rolle in meiner Familie,
meiner Klasse, unter meinen Kollegen – ja vielleicht sogar im
größeren Ganzen unserer Welt? Welche Bedeutung habe ich und welche Aufgabe?
II. Sich selbst richtig einzuschätzen und den eigenen Platz in der
Welt zu finden und anzunehmen – das ist Lebenskunst. Dass dies
gelingt ist keine Selbstverständlichkeit. Viele Menschen hadern mit sich
selbst und buhlen um die Anerkennung durch andere. Sie spielen sich zu sehr
in den Vordergrund, wollen sich bedeutsam machen, überschätzen sich selbst.
Oder im anderen Extrem: sie erscheinen verunsichert, entwickeln
Minderwertigkeitskomplexe und halten viel zu wenig von sich selbst. So oder
so: Sie scheinen noch nicht da angekommen, wo sie selbst und andere sehen
können: dieser Mensch hat seine Aufgabe, seinen Platz gefunden. In beiden
Fällen tragen Veranlagungen, die Erziehung, das Rollensystem der
Herkunftsfamilie, aber auch die Erfahrungen des Lebens zu dem bei, was ein
Mensch in eigenen und fremden Augen darstellt. - Jemand sein wollen,
jedenfalls kein Niemand sein wollen, kann ein enormer Handlungs- und
Verhaltensantrieb sein, aber auch im umgekehrten Fall zu Resignation und
Verzweiflung führen.
Woher können wir denn wissen, wer wir sind, wer wir sein können,
ohne Selbstübersteigerung oder ohne zu schwaches Selbstbild? Reicht es aus,
wenn wir uns selbst einhämmern: Ich bin wer!?
Entwicklungspsychologen wissen, dass ein gesundes Selbstbild und ein
gesundes Selbstbewusstsein sehr viel mit der frühkindlichen Zuwendung der Eltern
zu tun haben. Das Zutrauen, die bedingungslose Liebe der Eltern, die Zeit
und die Fürsorge, die sie schenken, sind von aller höchster Bedeutung. Wem
das geschenkt wird, der hat eine gute Ausgangssituation, um sich im Leben
zu recht zu finden und ein gesundes Selbstgefühl zu entwickeln.
Heißt das nun im Umkehrschluss: Wem dieses bedingungslose Zutrauen
fehlte, der hat keine Chance?
Ganz so einfach ist das zum Glück nicht. Es sind nicht nur die
elterlichen Einflüsse, die Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl formen.
Auch die weitere Umgebung spielt eine Rolle, andere Menschen – und
noch grundlegender: das grundlegende Zutrauen Gottes in seine Geschöpfe.
Was wir uns selbst nicht so leicht sagen können, und was manche Eltern
versäumen mögen – Gott sagt es uns, seinen Menschen, zu: Du bist
jemand! Du bist etwas wert – für mich bist du von unschätzbarem Wert,
einfach nur, weil du da bist.
Was aber, wenn Menschen gar nicht erfahren, dass sie Gott so viel
bedeuten? - Jeder soll es wissen: Wir sind wer! Wir, jeder von uns, haben
eine Bestimmung und eine ganz eigene Geschichte. Im Leben geht es darum, zu
verwirklichen, was Gott von Anfang an in uns sieht. Als Menschen sind wir
Gottes Originale, von ihm gewollt, von ihm erdacht, von ihm erhalten. Das
lässt uns aus der Bedeutungslosigkeit hervortreten: wir sind tatsächlich
etwas, Gottes Geschöpfe, sein Gedanke, sein Ebenbild. Aus dieser Gabe
erwächst uns unsere Aufgabe: wir sind dazu in der Lage und dazu bestimmt,
zu entdecken, wozu uns Gott beruft.
III. Wer bist du? Das ist die Frage, mit der sich auch Johannes in
unserem Predigttext herumschlagen muss. Die Frage wird an ihn herangetragen
und ist von einer enormen Erwartungshaltung geprägt. In seiner Antwort
erwehrt er sich erst einmal: Nein, ich bin nicht der Christus! Und auch
nicht Elia oder der Prophet! Johannes lässt sich nicht aufdrängen zu sein,
der er nicht ist und was einige Schuhnummern zu groß wäre. Er widersteht
der Versuchung, sich als jemand Bedeutenderes auszugeben … Frei von jeder
Selbstüberschätzung will er nicht mehr sein, als er ist, und als er sein
soll. Dass er sich nicht mit den „Größen“ identifiziert, sondern sich
bescheiden bei seiner eigenen Rolle hält, ehrt ihn. Er kann sich selbst und
seinen Auftrag einordnen, und weiß, wofür ihn Gott gedacht hat: sein
Auftrag ist es, „Stimme“ zu sein. Ich
bin eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Ebnet den Weg des Herrn! wie
der Prophet Jesaja gesagt hat. Johannes weiß also genau, wer er ist. Er
ist nicht mehr und nicht weniger als ein „Wegweiser“, ein „Rufer in der
Wüste“. Er ist in der Lage, sich einzufinden in diese Bestimmung seines
Lebens.
Wie hat er sie gefunden? Woher wusste er um seinen Auftrag? –
Hier lässt uns der Evangelist leider im Dunkeln. Aus vielen anderen
Berichten in den Evangelien wissen wir aber, dass Menschen dann Klarheit
über ihren Auftrag und ihre Bestimmung finden, wenn sie in Kontakt mit Gott
geraten. Sei es, dass sie sich selbst auf die Suche nach Gott machen, nach
ihm fragen – oder dass sie erleben, wie Gott auf sie zukommt und wie
Jesus ihnen begegnet. Darin liegt er Schlüssel: Wer ich bin und was meine
Bestimmung ist, erfahre ich in meinem Gottesverhältnis. Es erschließt sich
in der Begegnung mit Gott und in meiner Geschichte mit Gott. Bei ihm
erfahre ich, wer ich bin und wer ich nicht bin – und wer ich auch gar
nicht sein muss! Ich werde befreit von der Last der unmöglichen Erwartungen
an mich und beschenkt mit der Freiheit, die (oder der) sein zu können, die
(der) ich bin.
IV. Dass damit das Leben nicht wirklich einfach und konfliktfrei
wird, spürt Johannes allerdings auch. Kaum hat er seine klare Antwort
gegeben, wird er kritisch hinterfragt. Wenn du also weder Christus, noch
Elia, noch der Prophet bist, sondern ein einfacher Mensch, ein Botschafter
für den kommenden Herrn, mit welchem Recht tust du dann, was du tust? Die
kritischen Frager haben vor Augen, dass Johannes am Jordan Menschen zur
Umkehr aufruft, ihnen ins Gewissen redet, und sie dann als Zeichen der
Buße, der Haltungsänderung tauft. Damit eckt er an. – Wer einen
Auftrag hat und seiner Bestimmung folgt, muss damit rechnen, dass er
hinterfragt wird, und sich verantworten muss. Seiner Bestimmung zu folgen
bedeutet nicht, dass das Leben nun wie von selbst auf dem richtigen und auf
ruhigem Gleis weiterläuft. Vielmehr heißt es, alles – Leib und Leben
– in den Dienst Gottes zu stellen, sich im Umgang mit den Menschen
und der Welt an Gottes Sicht und Gottes Perspektive zu orientieren und so
mit dem eigenen Leben auf Gott hinzuweisen. Es geht nicht mehr nur um das
eigene Leben.
Für Johannes bleibt es nicht bei der vergleichsweise harmlosen
Anfrage, die unser Predigttext schildert. Die weiteren Berichte über
Johannes in den Evangelien schildern, welche Konsequenz das unerschrockene
Mahnen und der Einsatz von Johannes als unbequemer Prediger, als
Wegbereiter für Jesus Christus, hat: Johannes wird inhaftiert, um ihn
mundtot zu machen, und am Ende wird er zum Märtyrer.
V. Die Menschen, die in der Bibel geschildert werden, sind nicht alle
Täufer, nicht alle Vorläufer Jesu, längst nicht alle Märtyrer, nicht alle
werden Apostel, sondern es gehören auch die ganz normalen Menschen dazu mit
ihren ganz normalen Lebensgeschichten. Menschen, die ihre Rolle, ihre
Bestimmung in Gottes Reich finden. Es gibt solche, die aus ihrem Alltag
herausgerufen werden, und die sich auf einen neuen Weg machen. Aber es sind
auch solche, die mitten in ihrem ganz normalen Alltag ihrer Lebensaufgabe
nachgehen, und die mit ihrem Leben auf den Geber des Lebens hinweisen.
Worauf es ankommt, ist bereit zu sein, sich beauftragen und
hinterfragen zu lassen. Ja - unser Dasein hat eine Bestimmung. So wie
Johannes seine Aufgabe entdeckt und angenommen hat, gilt es auch für uns,
einzuwilligen in die Aufgabe, die Gott für uns hat. So wie Johannes nicht
größer sein wollte, als er war, nicht selbst Messias oder Elia sein wollte,
so gilt es auch für uns, die zu sein, die wir sind – nicht mehr und
nicht weniger. So wie Johannes kritischen Anfragen standhielt, gilt es auch
für uns, bei dem zu bleiben, was uns aufgegeben ist, möglicherweise auch
gegen innere und äußere Widerstände.
Johannes hat das das Leben gekostet, und
auch andere haben dafür mit dem Leben bezahlt, wie auch Dietrich Bonhoeffer
im Dritten Reich. - Hier ist aber auch die Vergleichbarkeit mit Johannes
dem Täufer an ihrem Ende. Sicher, es kostet etwas, wenn wir unserer
Bestimmung folgen, aber: so wie Johannes nicht Christus oder Elia sein
sollte, sind wir auch nicht Johannes oder Bonhoeffer …
Johannes der Täufer hat auf den vorausgewiesen, der kommen sollte
– und der in Kürze durch Johannes getauft werden sollte. Alle, die
später Jesus folgten und so ihre Bestimmung fanden, Jünger, Apostel,
Menschen durch die Jahrtausende hindurch, weisen nicht nur voraus auf den
einst wiederkehrenden Christus, sondern auch zurück: auf das Kind in der
Krippe, den erwachsenen Jesus, der sich der Menschen annimmt, auf den Mann
am Kreuz, auf den Auferstandenen, auf Gott, der sich in seinem Sohn Jesus
Christus den Menschen zeigt. Und zu diesen Wegweisern sind auch wir
bestimmt.
Amen.
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