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Predigten zum Neuen Testament
42. JG. 2008/2009
DIE LESEPREDIGT
4. Sonntag nach Trinitatis
5.7.2009
Die
Kraft der Barmherzigkeit
Text: Lk 6, 36-42
1. Da sieht einer den Balken im eigenen Auge nicht, aber den
Splitter im Auge eines anderen, den meint er genau zu erkennen.
Dieser Satz unseres Predigttextes ist weit bekannt. Er ist geradezu
sprichwörtlich geworden. Und das zu recht. Denn er beschreibt etwas, was
wir selbst tagein tagaus erleben können.
Da traut sich doch glatt der Arbeitskollege mir vorzuwerfen, ich sei in letzter Zeit nicht sehr
hilfsbereit. Das sagt er. Der
sollte doch erst mal vor der eigenen Tür kehren. Wer nimmt denn nie
Rücksicht auf die Urlaubswünsche der anderen? Wer ist der erste, der
zugreift, wenn es etwas umsonst gibt? Und wer wartet immer fein ab, bis
jemand anderes die Espresso-Maschine nachgefüllt hat? – Ja: wenn ich an diesen Menschen denke – verstehe
ich, was gemeint ist, wenn Jesus davon spricht, dass manche Menschen sofort
die Splitter bei den anderen entdecken, aber bei sich selbst nicht den
Balken. Genau so einer ist er – Balken hat er vor den Augen.
„Halt!“ – So werden nun gleich einige von Ihnen rufen – „Nicht so
schnell. Ist es wirklich das, was Jesus gemeint hat? Jesus hat doch gar
nicht davon gesprochen, dass die anderen
die Balken vor Augen haben – nein, bei uns selbst ist der Balken. Wir sind es, die falsch sehen.“
So leicht geschieht es uns, dass wir die anderen kritischer
beurteilen als uns selbst. Ihre Fehler fallen uns schnell auf. Unsere
dagegen kommen uns viel unbedeutender vor, und wir lassen sie schnell mal
unter den Tisch fallen oder wir relativieren sie.
Jesus ist sehr deutlich: „Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus
deinem Auge. Dann kannst du anfangen, den Splitter aus dem des anderen zu
ziehen.“
Wer selbst keinen klaren Blick fassen kann, weil ein Balken seine
Sicht enorm einschränkt, der kann doch nicht einen kleinen Splitter beim
anderen sehen oder gar entfernen wollen. Es besteht Verletzungsgefahr, wenn
ich den Splitter herausziehen will, und habe selbst einen Balken im Auge.
Das ist dann so, als wollte ein Blinder einem Blinden den Weg weisen. Beide
sind in der Gefahr, in eine Grube zu stürzen, die sie nicht sehen können.
Natürlich übertreibt und überspitzt Jesus – aber dadurch wird es uns
deutlich vor Augen gemalt: bevor ich über jemanden anderen urteile, bin ich
erst mal selbst dran.
Es geht nicht um die anderen, es geht um mich. Ich sehe den Balken nicht – und ich bin nicht zuständig für die
Splitter der anderen, sondern nur für meinen eigenen Balken.
2. Wenn in einer Partnerschaft Probleme auftauchen, wenn es
schwierig wird, miteinander zu sprechen. Wenn sie das Gefühl hat, bei ihm
nicht mehr durchzudringen. Wenn er immer die gleichen Vorwürfe laut werden
lässt. Dann ist es vielleicht an der Zeit sich Rat bei jemandem zu holen,
der sich mit Kommunikation und mit Kommunikationsmustern auskennt. Ein
solcher Berater, - ein Psychologe oder Paarberater – wird einem Paar
verschiedene Grundregeln nennen können, wie man miteinander reden kann und
wie nicht. Bestimmte Wörter sind tabu, wenn man trotz einer schwierigen
Situation weiter miteinander sprechen will. Das sind die Wörter wie „immer“
– und vor allem das Wort „du“. Jeder Satz, der mit „Du hast aber“ beginnt,
ist ein Problem, wenn Menschen bei jedem Versuch eines Gespräches in
gegenseitige Beschuldigungen ausbrechen und dem anderen hinzuknallen: „Du
hast aber letzte Woche gesagt...“ – „Immer musst du ... lügen“ – „Ich hab
schon immer gewusst, dass du ...“. Solche Sätze sind
„Splitter-Aufspür-Sätze“. Sie suchen – und finden den Splitte beim anderen.
Aber der eigene Balken bleibt außen vor. – So kommt man aber nicht weiter,
sondern dreht sich im Kreis gegenseitiger Beschuldigungen. Stattdessen
empfehlen die Kommunikationstrainer: Sprich von dir selber! Sage, was du
empfindest, was bei dir ankommt. Sage vor allem, was bei dir los ist. Rede
in der Ich-Form – und das, ohne dem anderen dabei doch wieder seine üblen
Seiten vorzuführen. Wer versucht, so miteinander zu reden, merkt, wie
schwer das ist. Nicht zuerst vom Splitter des anderen reden, sondern vom
eigenen Balken. Wie schnell passiert der Rückfall in eingeübte
Beschuldigungsmuster – und wir verwechseln erneut unsere Balken mit den
Splittern des anderen. Über Splitter beim anderen wird frühestens dann
geredet, wenn mir der eigene Balken, die eigene Begrenztheit, die eigene
Blindheit klar vor Augen steht. Das Ganze funktioniert allerdings nur, wenn
noch soviel Vertrauen und gegenseitige Achtung vorhanden ist, dass keiner
die Offenheit des Gegenübers ausnützt. Bei sich selbst anfangen macht
verletzlich. Wenn aber die Voraussetzungen stimmen, dann geschieht etwas
Wichtiges: ich halte inne, blicke auf mich selbst, erforschend und auch
selbstkritisch – und entdecke womöglich den blinden Fleck, der mich bislang
gehindert hat, die Sache klar zu sehen. Und ich bin nicht fixiert auf den
Splitter, den ich bei dem anderen entdeckt habe, und der mich so in Rage
gebracht hat.
Stellen Sie sich zwei Menschen vor, die so miteinander umgehen – die
Chance, dass sie miteinander Frieden schließen und in Frieden leben, ist
groß.
3. Jesus gibt klare Anweisungen, die verhindern sollen, dass wir
Balken und Splitter verwechseln. “Richtet nicht“, „verdammt nicht“.
„Vergebt“ und „gebt“.
Vier Aufforderungen. Was ist gemeint? „Richtet nicht“ – das heißt in
unserem normalen Sprachgebrauch: urteilt nicht über andere. Das Wort
„verdammen“ gibt es außer in Form des Fluches „Verdammt!“ kaum mehr in
unserem Wortschatz. Was gemeint ist, benennen wir eher mit dem Wort
„aburteilen“. Im Predigttext schwingt bei beiden Wörtern auch etwas mit,
was über unseren menschlichen Umgang miteinander hinaus geht. Richter über
das menschliche Herz ist nämlich alleine Gott, er entscheidet über Rettung
und Verdammnis. In dem Fluchwort „Verdammt!“ steckt die Aussichtslosigkeit
der Verdammnis. Verdammt ist, wem alle Wege in die Zukunft versperrt sind.
Verdammt ist, wem kein Weg zu Gott mehr offensteht, wen keine Hoffnung mehr
erwartet, wer abgeschnitten ist von seinen Lebenswurzeln. Richten und
Verdammen, das sind Dinge, die Menschen nicht zustehen, sondern Gott. Den
Aufforderungen nicht zu richten und nicht zu verdammen stellt Jesus zwei
andere Verhaltensweisen gegenüber, die zeigen, was stattdessen zu tun ist:
„Vergeben“ und „geben“.
Menschen, die über andere urteilen und sie aburteilen errichten um
sich eine Sphäre von Härte und Angst. Keiner sucht gerne die Nähe eines
solchen Menschen. Ganz anders, wenn Menschen in der Lage sind zu vergeben
und freigiebig und gerne Freundlichkeit und Zuwendung auszuteilen. Solche
Menschen werden gesucht und aufgesucht. Man hält sich gerne bei ihnen auf.
Sie spenden Wärme und Geborgenheit.
4. Selig sind die Friedenstifter und die Sanftmütigen, - so klingen
die Worte der Seligpreisungen in den Ohren. Aber ist das nicht Zuviel des
Guten – viel zu soft, zu weich? Wer freundlich ist, wird ausgenutzt. Das
ist hinlänglich bekannt. Wer weich ist, wird getreten. Wer nachgibt, wird
überrollt und übervorteilt.
Wer könnte darüber nicht seine eigene Geschichte erzählen – aus der
Familie, aus der Schule oder von der Arbeit. Ist es nicht so, dass sich in
unserer Gesellschaft die Rücksichtslosen durchsetzen, dass die Starken die
Nachgiebigen beiseite stoßen, dass die Willigen ausgenutzt werden, und die
Skrupellosen auf ihre Kosten noch größer, reicher und mächtiger werden? Wer
betrügt, frech lügt und unverschämt auftritt, hat die besten Chancen zu
bekommen, was er will. Dem muss doch Einhalt geboten werden! Hier muss doch
jemand klar die Wahrheit sagen und das Unrecht benannt werden! Und es muss
Recht gesprochen werden – hier ist „richten“ angesagt. Wie kann Jesus
auffordern, auf das Richten zu verzichten? Wird an dieser Stelle seine
Aufforderung nicht unrealistisch?
Selbstverständlich muss objektiv Recht gesprochen werden. Das ist
ganz in Jesus Sinn. Selbstverständlich ist denen Einhalt zu gebieten, die
das Recht beugen. Schon die Propheten des Alten Testaments kritisieren im
Namen Gottes scharf und deutlich soziale Missstände und Ungerechtigkeit.
Aber wenn es darum geht, darauf zu verzichten, andere schlecht zu
machen, über sie herzuziehen, dann sind wir bei dem, was Jesus meint. Beim
Verhältnis von Splitter und Balken. „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten
Stein.“ heißt es an anderer Stelle. Und noch etwas: Das Verhältnis anderer
zu Gott können wir nicht beurteilen. Über ihren Glauben oder Unglauben
steht uns kein Urteil zu. Und sie gar zu verdammen – ihnen also
grundsätzlich abzusprechen, dass auch ihnen Gottes Zukunft offen steht,
dass sie Gottes Geschöpfe sind, das ist niemals unsere Sache.
5. Unser Predigttext ist Teil der sogenannten Feldrede
Jesu, die der Evangelist Lukas überliefert. Sie ist auch eine Art kürzere
Variante der Bergpredigt Jesu aus dem Matthäusevangelium. - Beide Texte
formulieren klare Anweisungen Jesu zum Verhalten in verschiedenen
Situationen: was ist z.B. zu tun, wenn einer dir auf die rechte Wange schlägt?
Die linke auch noch hinhalten! Wie sich Feinden gegenüber verhalten? Sie
lieben!
Generationen ließen sich in ihrem Verhalten von der Bergpredigt
inspirieren. Eine der berühmtesten Persönlichkeiten war Mahatma Ghandhi, der in der Bergpredigt den wesentlichen Impuls
für seinen gewaltfreien Widerstand fand. Die Folge: die Kolonialherrschaft
der Engländer in Indien wurde gebrochen – durch friedlichen Widerstand und
nicht durch Revolte und Krieg.
Oder denken wir an Martin Luther Kind in den USA, der für die Befreiung
der schwarzen Bevölkerung kämpfte: friedlich. Selbst bezahlte er mit dem
Einsatz seines Lebens – wie Ghandhi auch.
Es gab auch andere, aber der Blick in die Geschichte zeigt auch,
dass nicht sehr viele die Bergpredigt für geeignet hielten, damit Politik
zu machen. Es ist schwierig, sich durchzusetzen, wenn man die Ethik der
Bergpredigt – Feindesliebe und Verzicht auf das Recht des Stärkeren – zum
Maßstab macht.
6. Immer wieder wurde die Frage gestellt, wie realistisch die
Bergpredigt als Handlungsanweisung tatsächlich sei, und ob es möglich sei,
ihr wirklich zu folgen. Fordert nicht der ganz normale Alltag immer wieder
zu Kompromissen heraus? Vielleicht kann die Bergpredigt nur von Menschen
gelebt werden, die sich der „Welt“ entziehen? Von den Mönchen und Nonnen in
den Klöstern? Von denen, die ihr ganzes Leben dem Evangelium widmen können,
die nicht Rücksicht auf eine Familie nehmen müssen? Was z.B. wenn in Zeiten
des Krieges meine Familie gefährdet ist, kann ich dann Feindesliebe
praktizieren? Oder muss ich nicht vielmehr zur Waffe greifen und die
schützen, die mir anvertraut sind?
Diese und andere kritische Anfragen wurden und werden an die
Bergpredigt gestellt. Sie ist und bleibt eine Herausforderung, an der
Menschen sich stoßen und reiben.
Und das muss auch so bleiben. Ich denke nicht, dass es richtig ist,
das einzuschränken, wozu sie herausfordert.
Doch gleichzeitig kann einen die schiere Unmöglichkeit, ihr
konsequent und umfassend zu folgen auch frustrieren. Die verschiedenen
Ausleger des Neuen Testaments haben darum nach Interpretationsmöglichkeiten
gesucht, die verständlich machen, warum die Bergpredigt Unmögliches
fordert. Beispielweise sahen sie darin eine Art göttlicher Pädagogik, die
dem Menschen seine Grenzen aufzeigt und ihm deutlich macht, dass er immer
wieder schuldig wird. Umso mehr konnten sie dann die Güte und Gnade Gottes
in den schönsten Farben ausmalen und daran erinnern, dass Gott seine
Menschen auch in ihrer Schwachheit liebt.
Es bleibt aber doch etwas unbefriedigend, wenn ein so eindrücklicher
Text wie die Bergpredigt oder die Feldrede
ausschließlich pädagogischen Charakter haben soll.
7. Unser Predigttext führt uns ganz unauffällig auf eine andere
Fährte, und das gleich im ersten Vers, der wie eine Überschrift über allem
weiteren steht. „Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig
ist.“ Alle anderen Aufforderungen des Abschnittes sind mit Folgen
verknüpft: Richtet nicht, damit
ihr nicht gerichtet werdet, gebt, dann
wird auch euch gegeben werden ... In diesem Einstiegsvers
aber heißt es nicht, seid
barmherzig, damit auch ihr
Barmherzigkeit erfahrt. Nein: Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist. Nicht damit euch gleiches wiederfährt.
Nein: weil euch gleiches
wiederfährt, könnt ihr auch barmherzig sein. Weil Gott gibt, können auch
wir geben. Weil er uns bedingungslos und leidenschaftlich liebt, müssen wir
nicht richten und verdammen, sondern können vergeben und geben. Weil Gott
gnädig ist, beschenkt er uns. Weil wir uns im Tiefsten geliebt wissen dürfen,
können wir Ablehnung ertragen. Weil Gott sogar die liebt, die ihn
verfolgen, weil Jesus am Kreuz noch für seine Folterer betet, können wir
auch unsere Feinde lieben, unseren Gegnern und Kritikern fair begegnen.
Weil Gott die Hoffnung für seine Menschen nie aufgibt, müssen wir niemanden
verdammen und auch keine Angst davor haben, dass Gott uns verstößt.
Gott ist barmherzig: er hat ein Herz für uns, seine Menschen. Aus
dieser Kraftquelle können wir schöpfen und leben.
Amen.
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